Mehr Markt statt mehr Demokratie

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Anfang Mai 2017 traf ich einen alten Schulfreund, Hochschulabschluss in Biologie, später in verschiedenen Funktionen in der Wirtschaft, nun seit längerem im Ruhestand. Im Verlauf des Treffens kamen wir auf das Referendum vom 21. Mai zu sprechen. Ich empfahl ihm, gegen das kostspielige planwirtschaftliche Energiegesetz zu stimmen. Darauf meinte er spontan: „Ich werde sicher nicht nein stimmen, ich werde doch nicht Blocher zu einem Abstimmungssieg verhelfen!”

Neuerscheinung: Hans Rentsch, Wie viel Markt verträgt die Schweiz?

Ökonomische Streifzüge durchs Demokratieparadies -Hans Rentsch geht der Frage nach, wie viel Markt und Wettbewerb unter den besonderen politischen Ins…

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So sieht also das primäre Abstimmungsmotiv eines gebildeten Schweizer Stimmbürgers aus! Er sagte mir, er sei, nachdem er die Abstimmungssendung „Arena” am Fernsehen gesehen habe, nicht klüger als zuvor und wisse nicht, welche Seite recht habe. Darauf riet ich ihm, dieses Mal gar nicht zu stimmen. Für einen Unentschiedenen wie ihn, dazu ohne vertiefte Kenntnis der Fakten, sei dies die einzig vernünftige Haltung. Das wollte er aber gerade nicht. Er zählte mir alle Gründe auf, weshalb er den Politiker Blocher nicht mag. Das hatte zwar mit der Abstimmung sachlich nichts zu tun, aber diese lieferte ihm eine Gelegenheit, seine persönliche Abneigung gegen einen ungeliebten Politiker auszudrücken. Dieses Verhalten ist doppelt irrational. Erstens spielen Sachargumente keine Rolle, und zweitens ignoriert sie die Tatsache, dass eine einzelne Stimme den Ausgang der Abstimmung nicht „gegen Blocher” kippen lassen wird. Doch so wie mein früherer Schulkamerad „gegen Blocher” stimmen wollte, verhielten sich viele Andere auch.

Dieses Erlebnis verführte mich zu einer ketzerischen Frage: Warum hat die Stimme einer zum Abstimmungsthema höchst oberflächlich informierten Person ohne klare Meinung, geleitet von emotionalen Abstimmungsmotiven, dasselbe Gewicht wie meine eigene Stimme? Seit Jahren beschäftige ich mich als Ökonom aus professionellem Interesse mit der Energie- und der Klimapolitik. Mein Schulkamerad dagegen hat ausser dem Aufwand, die mässig informative TV-Sendung „Arena” zur Abstimmung zu verfolgen, keine weiteren Anstrengungen unternommen, um sich aufgrund von Sachargumenten eine Meinung bilden zu können.

Demokratie als Religionsersatz

Als ich einige Tage später den Fernseher einschaltete, erhielt ich unerwartet akademische Unterstützung. Der US-amerikanische politische Philosoph Jason Brennan sprach am Schweizer Fernsehen über sein Buch „Against Democracy”. Das Werk ist ein Aufruf gegen die Mystifizierung der Demokratie. Brennan schreibt, die Demokratie mit ihrer geheiligten Formel „eine Person, eine Stimme” sei zur offiziellen Religion des Westens geworden. In der Schweiz wird die direkte Demokratie mit besonders hoher Inbrunst verehrt. Indem wir jährlich drei bis vier Mal das Ritual von Volksabstimmungen zelebrieren, fühlen wir uns als auserwähltes Volk, das politisch mehr von dem hat, was alle anderen auch möchten. Gemäss dem Zürcher Ökonomen Bruno S. Frey haben die direkten Volksrechte über ihren symbolischen Eigenwert hinaus noch die Wirkung, dass sie die Menschen glücklicher machen. Freys Befund passt zu den Ergebnissen aus Umfragen, die zeigen, dass religiöse Menschen glücklicher sind als Nichtgläubige.

Die Demokratie bietet keinen Anreiz zu rationalem Wählerverhalten. Was mein alter Schulfreund und viele andere Leute im Referendum zum Energiegesetz betrieben, ist ein Musterfall von „expressive voting”. Man äussert sich nicht bloss zur Sache an sich, sondern benützt eine Abstimmung, um aus der Teilnahme emotionalen Gewinn zu ziehen. Mithilfe dieses Denkansatzes lässt sich erklären, weshalb sich die Leute überhaupt an Wahlen und Abstimmungen beteiligen. Doch wenn jemand bloss um seine Emotionen zu befriedigen, eine schlechte Politik unterstützt, trifft diese, sofern sie sich durchsetzt, nicht nur ihn selbst, sondern alle anderen auch. Das bedeutet, dass ein „expressive voting”-Wähler negative Externalitäten in Kauf nimmt.

Aufgrund der Forschung über das Wählerverhalten in den USA fällt Brennan ein unerbittliches Urteil: „Voters are not informed to vote sensibly.” Es gebe deshalb eine moralische Pflicht der meisten, nicht stimmen oder wählen zu gehen. Das hatte ich meinem Schulfreund geraten. Brennan verallgemeinert dies: Mit welcher Begründung lässt sich das gleichwertige Stimmrecht jeder einzelnen Person, unabhängig von ihrem politischen Wissensstand, rechtfertigen? Sicher nicht durch eine erfolgreiche Politik zum Wohl der ganzen Gesellschaft, meint Brennan, denn die Politik westlicher Demokratien habe in den letzten Jahren statt Erfolge ausgiebig Krisen produziert.

Von der Weisheit des Stimmvolks

In der Schweiz spricht man gerne pauschal von der Weisheit des Stimmvolks. Es gibt aber kein weises Stimmvolk, sondern nur mehr oder weniger gut informierte Wähler. In Artikeln, Abhandlungen, Essays oder sonstigen Verlautbarungen von Leuten mit politischer Expertise bin ich schon auf ähnlich nüchterne Einschätzungen gestossen, wie jene von NZZ-Journalist Hansueli Schöchli zur Volksabstimmung vom September 2017 über die Rentenreform: „Die Sache wird hässlich werden. Von hüben wie von drüben ist viel Unsinn zu erwarten – denn wer es riskiert, dem Volk reinen Wein einzuschenken, muss mit einer Abfuhr rechnen.” Recht hat er, aber dahinter verbirgt sich ein entscheidender Punkt: Gäbe es ein weises Stimmvolk aus politisch interessierten Menschen, würden sich diese den reinen Wein selber einschenken. Aber genau das geschieht nicht, denn es fehlen für den einzelnen Stimmberechtigten mit seinem extrem marginalen Einfluss jegliche Anreize, sich zu informieren.

Brennan kritisiert auch die verbreitete Idealisierung der deliberativen Demokratie. Diese setze auf die Offenheit der Menschen für Argumente der Gegenseite, was illusionär sei. .„…most citizens disregard any information that contradicts their current ideology.” Deliberative Demokratie führe nachweislich sogar zu einer Polarisierung. Diesen Eindruck erhält man auch durch die wöchentliche konfrontative Politsendung „Arena” des Deutschschweizer Fernsehens, die jeweils die politischen Widersacher zu aktuellen Themen „pro” gegen „kontra” antreten lässt. Man hat es kaum je erlebt, dass jemand von den Streitparteien sich offen für Argumente der Gegenseite gezeigt hätte. Die Fronten verhärten sich oft im Verlauf der Sendung.

Brennans folgende polemisch zugespitzte Aussage ist empirisch belegt: „When it comes to political information, some people know a lot, most people know nothing and many people know less than nothing.” „Weniger als nichts” heisst, statt zuzugeben, dass sie nichts wissen, vertreten Leute eine Irrmeinung, oft aufgrund von Vorurteilen. Vorurteile sind schlimmer als nichts zu wissen, denn Unwissen ist durch Bildung und Aufklärung heilbar. Dagegen sind Leute mit Vorurteilen gegen Aufklärung durch Sachargumente häufig immunisiert, vor allem dann, wenn das betreffende Thema ideologisch oder moralisch aufgeladen ist und diffuse Ängste auslöst. Man denke nur an die Flüchtlings- und Migrationspolitik, die moraltriefende Umwelt- und Klimadebatte, die Energiepolitik mit der stigmatisierten Kernenergie, die Grüne Gentechnik oder viele Bereiche der Sozialpolitik.

Mehr Markt statt noch mehr Demokratie

Gegen die radikale Demokratiekritik von Brennan ist man versucht, das berühmte Bonmot von Winston Churchill in Stellung zu bringen: „Democracy is the worst form of government, except all those other forms that have been tried from time to time.” Der US-amerikanische Ökonom Bryan Caplan kritisiert in seinem Buch „The Myth of the Rational Voter”, Churchill übergehe die Tatsache, dass die Alternative zur Demokratie nicht ein autoritäres System sei, sondern der Markt. Der Markt stelle die grundsätzliche Alternative zu Staat und Politik dar. Statt auf Zwang und Kollektiventscheidungen zu beruhen wie die Politik, steht der Markt als Symbol für den Bereich freiwilliger individueller Entscheidungen.

Nun gibt es aber in der breiten Bevölkerung eine klar belegte Skepsis gegenüber Marktlösungen. So bleibt vieles politisiert und Kollektiventscheidungen unterworfen. Und die politischen Trends laufen in Richtung von „noch mehr vom Gleichen”. Eine noch gesteigerte plebiszitäre Demokratie ist aus der erleichterten Nutzung der direkten Volksrechte zu erwarten. Online-Plattformen neuster Technologie zur Sammlung von Unterschriften werden die Kosten der Lancierung von Initiativen und Referenden noch weiter senken und die politische Agenda mit spontanen „Bürgeraktionen” befrachten. Es droht eine Entwicklung hin zu Dauerplebisziten per Mausklick. Die Übersichtlichkeit und die Steuerbarkeit des politischen Prozesses werden weiter abnehmen.

Churchills Bonmot über die Demokratie als die schlechteste aller Staatsformen mit Ausnahme aller anderen gilt für alle Demokratien. Aber auch die Kritik von Caplan an Churchills Ausspruch gilt für alle Demokratien. Diese leiden alle unter den gleichen Fehlentwicklungen: Der Staat, seine Bürokratien und die staatliche Regulierung expandieren, beschneiden die Sphäre der individuellen Freiheiten, greifen immer mehr in private Eigentumsrechte ein, und alle haben die Neigung zur Biegung von selbst gesetzten Regeln aus politischem Opportunismus. Da bildet auch die Schweiz keine Ausnahme. Eine Rückbesinnung auf die Idee einer wirklich liberalen Gesellschaft, in der jede staatliche Aktivität strikt nach den Kriterien der Subsidiarität und den Regeln des liberalen Rechtsstaats begründet werden muss, ist auch bei uns nicht in Sicht. 

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1 thought on “Mehr Markt statt mehr Demokratie”

  1. Stimmbeteiligung: Eine politische Zeitbombe?

    Die durchschnittliche Stimmbeteiligung in der Schweiz liegt bei 45%. Bei emotional aufgeladenen Abstimmungen (zum Beispiel Minarett-, Ausschaffungs- oder Masseneinwanderungsinitiative) steigt sie in den Bereich von 50-55%, bei der Durchsetzungsinitiative waren es gar 62%. Mit der Emotionalisierung eines Themas lassen sich also Abstimmende aus der grossen Schicht der politisch abstinenten Bevölkerung gewinnen.

    Wie wären wohl die Abstimmungsergebnisse, wenn alle Stimmberechtigten zur Urne gingen? Liessen sich dann auch Abstimmungen von existenziell wichtiger Bedeutung für die Schweiz mit emotional stark aufgeladenen Kampagnen gewinnen? Wenn wir das Abstimmen „aus dem Bauch heraus“ verhindern wollen, müssen wir die politische Bildung der breiten Bevölkerung mit einem besserem Staatskunde-Unterricht fördern.

    Mit der Wiedereinführung der Stimmpflicht liesse sich zwar die politische Bildung nicht wesentlich erhöhen, sie würde aber die Gefahr von völlig überraschenden Abstimmungs- und Wahlergebnissen vermindern.

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